Goelzenleuchter Vorwort

Warum setzt man sich hin und beginnt zu schreiben? Es kann das Interesse an einem Thema oder einer Sache sein. Es kann der Wunsch sein Erinnerungen festzuhalten. Innere Betroffenheit kann der Anlaß sein. Manchmal kann sich auch das eine mit dem anderen verbinden. Wenn daraus schließlich ein Buch wird, so muß das am Anfang nicht das Ziel gewesen sein.

In den achtziger Jahren wurde ich mit der Nase auf ein Problem gestoßen, das ich unschwer selbst hätte wahrnehmen können, wenn ich nur richtig hingeschaut hätte. Aber das habe ich nicht getan. Zwar war bei mir schon ein gewisses Bewußtsein vorhanden. Denn bereits in der Schule hatte ich begonnen Hebräisch zu lernen. Das war für mich zunächst Mittel zum Zweck. Denn es war die Voraussetzung für das Theologiestudium. Bald fragte ich auch nach dem Umfeld dieser Sprache. Das waren anfangs sehr sporadische und zufällige Begegnungen. Zur Lektüre im Gymnasium gehörte die kleine Novelle von Annette von Droste-Hülshoff: „Die Judenbuche“. Die Eltern erzählten von Juden in der Stadt. Der Großvater hatte seine Werkstatt neben einer Synagoge. Juden waren seine Kunden. Meine Mutter war mit einer jüdischen Freundin gemeinsam in der Tanzstunde. Diese Erzählungen aber ergaben noch kein Bild.

Irgendwann besuchte ich dann einmal einen Vortrag über synagogale Musik. Ich verstand wenig oder garnichts. Aber der Redner führte musikalische Beispiele an. Dabei gingen mir die Namen Auschwitz, Treblinka und Maidanek erstmals bewußt unter die Haut. Noch heute kann ich den klagenden Gesang von Kantor Schalom Katz im „El mole Rahamime“ , in einer historischen Aufnahme aus Bukarest, hören.

Als Student befaßte ich mich dann auch mit der Geschichte Israels. Geschichte hat mich immer fasziniert. Aber die Geschichte Israels schloß im Vorlesungsangebot immer mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer. So wie mein Geschichtsunterricht in der Schule mit der Weimarer Republik schloß. Irgendwann hielt ich dann in der Universitätsbibliothek einen Bildband mit Fotografien von Massengräbern aus verschiedenen Konzentrationslagern in der Hand. Diese Bilder kann ich heute noch vor mir sehen.

Nach dem Examen schickte die Kirchenleitung mich zunächst nach Worms. Bald hörte ich in Worms von dem Judenfriedhof und von der Synagoge. Natürlich besuchte ich beide. So wie ich auch einmal die Synagoge in Rom und die Mikwe in Friedberg besucht hatte. All das reichte nicht aus, um in mir aus all diesen Mosaiksteinen ein wirkliches Bild entstehen zu lassen. Denn in all diesen Jahren war ich keinem Menschen begegnet, der Teil dieses Bildes hätte sein können. Selbst der Jude Jesus fiel mir dazu nicht ein.

Bei irgendeiner Gelegenheit hörte ich dann einen Vortrag, der von jüdischen Friedhöfen und ehemaligen Synagogen berichtete. Das war für mich Anlaß einmal in meiner nächsten Umgebung nach Zeugnissen ehemaligen jüdischen Lebens zu suchen. Ich kannte den jüdischen Friedhof in Limburg. Und die jüdische Synagoge in Hadamar hatte ich oft gesehen. Ich hatte auch die ergreifende Geschichte: ‘Wenn nur der Sperber nicht kommt’ von Maria Mathi gelesen. Jetzt wollte ich es genau wissen. Damit begann ich zu fragen, zu suchen und zu lesen. Zunächst suchte ich innerhalb der Grenzen des Dekanates Runkel, in dem ich als Pfarrer tätig war. Manche Informationen spielte mir der Zufall zu, andere bekam ich durch systematische Recherchen. Dadurch entstand auf einmal ein ziemlich enges Netz von Orten, die Zeugnisse ehemaligen jüdischen Lebens waren.

Dabei entdeckte ich neu, was ich eigentlich hätte wissen können, daß die evangelischen Kirchengemeinden in ihren Archiven die Zivilstandsbücher aufbewahren, die von Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis in die preußische Zeit hinein auch über jüdische Bewohner der Kommunen Auskunft geben.

Immer noch verstand ich meine Tätigkeit als einfaches Sammeln. So sammelte ich auch die Bilder, die ich in einigen Winterwochen von jüdischen Friedhöfen und ehemaligen Synagogen machte. Damals war es mir nicht vorstellbar, daß man diese Orte noch einmal in strahlendem Sonnenschein würde fotografieren können. Ein Bild war dabei für mich symptomatisch. Der Zugang der Synagoge von Hadamar war tief verschneit. Durch den Schnee führten aber keinerlei Spuren. Würden je wieder Spuren sichtbar werden?

In einem zufälligen Gespräch mit dem damaligen Landrat Georg Wuermeling erzählte ich diesem von meiner Arbeit. Ich erzählte ihm aber auch von meiner zunehmenden Betroffenheit. Damals äußerte er den Wunsch, die Bilder zu veröffentlichen. Zugleich bat er mich darum die Arbeit auf den Kreis Limburg-Weilburg auszudehnen. Also fuhr ich noch einmal los und fotografierte auch noch die jüdischen Friedhöfe des Kreises Limburg – Weilburg, die ich noch nicht besucht hatte. In großer Unbefangenheit begann ich darauf zu den einzelnen Bildern Texte zu schreiben.

In diese Zeit des Sammelns und Schreibens fiel eine Reise nach Israel. Am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv holte uns, eine Gruppe von Pfarrern, unser Guide, der uns vierzehn Tage begleiten sollte, ab. Seine Familie war einmal von Danzig nach Amerika ausgewandert. Er selbst war als junger Mann nach Israel gekommen. Er hatte über Heidegger promoviert. Da Israel aber nicht so sehr Geisteswissenschaftler, sondern eher Menschen der Tat brauchte, begann er für sich und seine Familie den Lebensunterhalt als Reiseleiter zu verdienen. So begegneten wir einem theologisch und philosophisch gebildeten Menschen, der darüber hinaus noch in der israelischen Friedensbewegung tätig war. Tag für Tag entfalteten sich vor unseren Augen neue Facetten dieses geschichtsträchtigen Landes.

Der Aufenthalt in Israel war eine Tour im Laufschritt durch die vieltausendjährige Geschichte Israels, von Dan bis Beer Scheba. Dabei wurde deutlich, daß immer wieder nur für wenige Jahrzehnte Frieden und Ruhe in dem Land herrschten. Die Phasen des Krieges, der Verfolgung, der Deportation und der menschlichen Not aber waren langanhaltend. Die Lage und die Größe des Landes, die geographischen Gegebenheiten, luden die mächtigen Nachbarn im Norden und im Süden sowie im Osten immer wieder ein, begehrlich die Hände nach diesem Kulturland auszustrecken oder es einfach zu überrennen. Immer wieder wurden Bevölkerungsteile verschleppt und vertrieben. Immer wieder kehrten Nachkommen der Vertriebenen in das Land der Väter zurück. Eine Bewegung, die schon in biblischer Zeit in den Büchern Esra und Nehemia berichtet wird. Jahrhunderte später ließen die Kalifen die sephardischen Juden in das Land. Die Heimkehr in unserem Jahrhundert hält immer noch an. Allen Heimkehrern gemeinsam war und ist die Erinnerung an ein Land, das einmal den Vätern gehörte und das Gott Abraham einmal gezeigt hatte, ein Land, in dem es für Juden keine Ghettos gab.

Eindrücklich war für mich der Besuch in Safed mit seinen alten Synagogen, einem Zentrum jüdischer Kabbala. Hier lebten Isaak Luri und andere Größen mittelalterlicher Mystik, die durch intensives Torastudium sich dem Geheimnis Gottes anzunähern versuchten. Hier entstanden berühmte Schriften wie der Sohar. Die Träger dieser Mystik waren aus Spanien gekommen, sephardische Juden, die von der Inquisition vertrieben worden waren. Die damaligen islamischen Herrscher hatten die Juden wegen ihres Wissens bewußt ins Land geholt, um die Infrastruktur zu verbessern.

Wir trafen in Israel aber auch Rückkehrer aus unserem Jahrhundert. Männer und Frauen, die rechtzeitig vor dem Holocaust geflohen waren und solche, die das Grauen der Konzentrationslager überlebt hatten. Es ist schwer solche Begegnungen mit Worten zu beschreiben. Man möchte gerne von Normalität sprechen. Aber in diesen Begegnungen gibt es keine Normalität. Die einen tragen die Wunden an ihrem Körper und in ihrer Seele. Die anderen schleppen das Wissen um eine unheilvolle Geschichte mit sich herum. Nur selten machen Besucher sich wirklich klar, was es für einen Menschen bedeutet von den eigenen Wurzeln getrennt worden zu sein. Heimweh nach einer Landschaft oder nach einer geistigen Kultur ist dabei noch das geringste. Viele, die dem Holocaust entkamen und überlebten, haben ihre gesamte Familie verloren. Die Familie ist für jeden Menschen ein Stück Geborgenheit. Sie ist aber auch Anbindung an die eigenen Wurzeln. Das Jiddische kennt die Mischpoche, abgeleitet von dem hebräischen ‘mischpacha’, Familie. Der Duden erklärt leider noch in seiner letzten Ausgabe: Verwandtschaft, üble Gesellschaft. Auch Sprache verrät unbewußt Antisemitismus.

Spätestens in Yad Vaschem holt den Besucher Israels die jüngste Geschichte ein. Man muß schon sehr hartgesotten sein, wenn man sich der Dokumentation des Grauens entziehen kann. Jüngeren Menschen mag es schwer fallen, sich mit einer Kollektivschuld zu identifizieren. Aber man kann sich nur schwer dem Erschrecken darüber entziehen, daß Menschen über andere Menschen urteilen und sie wegen der anderen Religion, Rasse, Geschichte und Sprache als minderwertig einstufen. Menschen denken nicht nur die Vernichtung von Menschen, sondern setzen sie mit aller Brutalität millionenfach in die Tat um. Wer durch die Gedenkstätte für die ermordeten Kinder geht und nicht zugleich an die eigenen Kinder denkt, der muß schon sehr abgebrüht sein. Ich kann heute noch die Beklemmung empfinden. Als wir die Gedenkstätte verließen, betroffen und doch befreit, standen wir im strahlenden Licht der herbstlichen Abendsonne und schauten auf das neue Jerusalem, in dem eine neue Generation heranwächst. Das ist eine Generation, die die eigenen Eltern teilweise nicht versteht und die beschlossen hat: „Masada darf nicht mehr fallen.“

Wer heute Israel besucht, kann sich der Faszination dieses Landes nicht entziehen. Die Jahrtausende alte Geschichte wird in erster Linie in steinernen Zeugnissen manifest. Aber da ist auch noch ein Buch, in dem vielfältige Gotteserfahrungen aufgezeichnet sind. Sowohl das Buch als auch die sakralen und die profanen Bauwerke wurden von menschlichem Geist und menschlicher Hand geformt. Geschichte ist die Geschichte von Menschen. Die Propheten Israels sagten: Es ist aber auch und in erster Linie die Geschichte Gottes mit den Menschen.

Weil es aber in der Vergangenheit in erster Linie um die Geschichte Gottes mit seinem Volk ging, konnte diese Geschichte zeitweilig, ohne an ein Land gebunden zu sein, weitergehen. Die Kinder Israels saßen zwar an den Flüssen Babylons und weinten. Aber sie richteten sich dabei an den Gott, der Abraham aus seinem Land herausgeführt, den er zu segnen und zu einem großen Volk zu machen versprochen hatte. Es war der Gott, der Israel aus dem Sklavenhause in Ägypten befreit hatte. Es war der Gott, dem Israel die zehn Gebote verdankte. Es war der Gott, der Israel am Tage als Wolkensäule und nachts als Feuersäule in der Wüste voranging. Es war der Gott, von dem die Israeliten in dem Sch’ma Jisrael bekannten, daß er allein Gott und darum einzigartig sei. War der Glaube Israels auch unabhängig von einem Ort, so war für Israel das Land als Ort der Verheißung trotzdem wichtig. Darum wollte Naboth seinen Weinberg nicht an den König Ahab verkaufen. Denn der Weinberg war Teil des verheißenen Landes, das über die Väter auf Naboth gekommen war.

Wichtiger aber als das Land war die unmittelbare Gotteserfahrung. Zwar war Israel immer wieder anfällig für die anderen Götter. Aber letztlich hat das Bekenntnis zu der Einzigartigkeit Gottes Israel durch die Jahrtausende überleben lassen. Dieses Bekenntnis bestimmte die Besonderheit Israels. Israel hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder nationale Katastrophen erlebt. Der Glaube an den einen Gott hat Israel aber auch in der Fremde seine Identität bewahren lassen.

Der Glaube Israels an die Einzigartigkeit seines Gottes hat Israel bewahrt, aber zugleich auch immer wieder in äußerste Bedrängnis gebracht. Dort wo die Israeliten in den verschiedensten Gastvölkern kulturell und religiös aufgingen, sich assimilierten, verloren sie bald ihre Identität. In all den Fällen, in denen sie an ihrer Religion festhielten, kam es über kurz oder lang zu Auseinandersetzungen mit der andersgläubigen Umwelt.

Daß die Begegnung mit dem Christentum für das jüdische Volk solch verheerende Folgen hatte, ist für das Christentum beschämend. Diese Begegnung stellte sowohl für Juden als auch für Christen die Existenzfrage. Für die Juden wurde es zur Frage der nackten Existenz. Für die Christen wurde es zur Frage der Existenzberechtigung. Denn welche Berechtigung hat ein Christentum, das eine Grundaussage der eigenen Identität: ‘Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst’ in der Begegnung mit Gottes Volk in Wort und Tat verleugnet? Wenn man bedenkt, daß der, den die Christen als den gekommenen Messias bekennen, aus Israel hervorgegangen ist und ganz in der Tradition seines Volkes lebte, so wird das Ganze noch bedrückender.

Die Christen gaben immer wieder den Juden die Schuld am Tode Jesu. Das war verhängnisvoll und falsch. Das letztgültige Todesurteil wurde gegen besseres Wissen definitiv von dem Römer Pontius Pilatus gesprochen. Er hatte die Macht und die Möglichkeit Jesus frei zu lassen. Um den führenden Leuten in der Priesterschaft, die Jesus nach ihrem Gesetz verurteilt hatten, einen Gefallen zu tun, wusch er selbst seine Hände in Unschuld und gab Jesus zur Kreuzigung frei. Die Evangelien berichten übereinstimmend, daß die Priesterschaft die Existenz Jesu und sein Auftreten als störend empfand und ihn wegen seines Anspruches der Gotteslästerung bezichtigte und ihn darum nach ihren Gesetzen verurteilte. Gleichzeitig wird schon in den Evangelien deutlich, daß mit der Zeit eine Verlagerung in der Schuldfrage zu Gunsten der Römer und zu Ungunsten der Juden stattfand. Als das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde, war es klar, daß die Juden die alleinige Schuld tragen mußten. Theologen und eine primitive Volksfrömmigkeit arbeiteten in einer unheiligen Allianz an einer Eskalation der Schuldzuweisung. Die Folgen waren fürchterlich.

Hier nur einige Beispiele: Am 27. November 1095 rief Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont-Ferrant zum ersten Kreuzzug auf. Ziel dieses Kreuzzuges war es die Ungläubigen zu bestrafen. Fernziel war es Jerusalem und das Heilige Land aus der Hand der Ungläubigen zu befreien. Da war es nur logisch, daß man bereits im Aufbruch und auf dem Wege dorthin sich an die Juden hielt. Dabei wurde nicht zwischen Juden und Sarazenen unterschieden. Ungläubige waren in den Augen der Kreuzfahrer beide. Mit dem Übergriff auf die Juden und ihren Besitz konnte man die meist sehr schmale Reisekasse auf bessern. So kam es im Frühsommer 1096 im Rheintal zu verheerenden Massakern unter der jüdischen Bevölkerung. Betroffen waren davon unter anderem die Juden der Städte Speyer, Worms, Mainz und Köln. In diesen Städten gab es große jüdische Gemeinden. Selbst dort wo die Juden wie in Worms in das bischöfliche Palais flüchteten, machten die verrohten Horden kein Halt vor den Kirchenmauern. Hier wie auch anderen Orts nahmen viele Juden sich selbst das Leben. Das wird verständlich, wenn man erkennen muß wie brutal die Kreuzfahrer vorgingen. Das ist in vielen Augenzeugenberichten festgehalten. Von Worms heißt es: „Die Feinde entkleideten sie und schleiften sie hinter sich her, wobei sie niemand Schonung gewährten, abgesehen von ein Paar Gemeindegliedern, die die Taufe annahmen. In diesen zwei Tagen belief sich die Zahl der Getöteten auf achthundert….“

Die Grausamkeit des Vorgehens war unvorstellbar. Aber nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts fällt es schwer eine Verbesserung auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit festzustellen.

Die jüdischen Gemeinden kamen auch nach den Kreuzzügen nicht zur Ruhe. Alles Unheil, das Europa traf, wurde schuldhaft auf die Juden abgewälzt. In den Augen der Christen waren sie schuld an der Pest. Sie waren schuld am Krieg und an Hungersnöten etc. Sie hatten die Brunnen vergiftet. Sie vergriffen sich an Christenkindern, um deren Blut am Pessachfest unter das Brot zu mischen. Sie entweihten die Hostien, um den Leib Christi noch einmal zu töten. Der Aberglaube trieb immer neue Blüten. An zahlreichen Orten Europas wurden Gerüchte von angeblichen Kindestötungen angesiedelt. Heinrich Heine erzählt eine solche Geschichte in seinem „Rabbi von Bacherach“:

„Im großen Saale seines Hauses saß einst Rabbi Abraham, und mit seinen Anverwandten, Schülern und übrigen Gästen beging er die Abendfeier des Paschafestes. Im Saale war alles mehr als gewöhnlich blank; über den Tisch zog sich die buntgestickte Seidendecke, deren Goldfransen bis auf die Erde hingen, traulich schimmerten die Tellerchen mit den symbolischen Speisen sowie auch die hohen weingefüllten Becher, woran als Zierat lauter heilige Geschichten von getriebener Arbeit; die Männer saßen in ihren Schwarzmänteln und schwarzen Platthüten und weißen Halsbergen; die Frauen in ihren wunderlich glitzernden Kleidern von lombardischen Stoffen, trugen um Haupt und Hals ihr Gold- und Perlengeschmeide, und die silberne Sabbatlampe goß ihr festlichstes Licht über die andächtig vergnügten Gesichter der Alten und Jungen. Auf den purpurnen Sammetkissen eines mehr als die übrigen erhabenen Sessels und angelehnt, wie es der Gebrauch heischt, saß Rabbi Abraham und las und sang die Agade, und der bunte Chor stimmte ein oder antwortete bei den vorgeschriebenen Stellen. Der Rabbi trug ebenfalls sein schwarzes Festkleid, seine edelgeformten, etwas strengen Züge waren milder denn gewöhnlich, die Lippen lächelten hervor aus dem braunen Barte, als wenn sie viel Holdes erzählen wollten, und in seinen Augen schwamm es wie selige Erinnerung und Ahnung. Die schöne Sara, die auf einem ebenfalls erhabenen Sammetsessel an seiner Seite saß, trug als Wirtin nichts von ihrem Geschmeide, nur weißes Linnen umschloß ihren schlanken Leib und ihr frommes Antlitz. Dieses Antlitz war rührend schön, wie denn überhaupt die Schönheit der Jüdinnen von eigentümlich rührender Art ist; das Bewußtsein des tiefen Elends, der bittern Schmach und der schlimmen Fahrnisse, worinnen ihre Verwandte und Freunde leben, verbreitet über ihre holden Gesichtszüge eine gewisse leidende Innigkeit und beobachtende Liebesangst, die unsere Herzen sonderbar bezaubern. ………..

Der zweite Becher war schon eingeschenkt, die Gesichter und Stimmen wurden immer heller, und der Rabbi, indem er eins der ungesäuerten Osterbrote ergriff und heiter grüßend emporhielt, las er folgende Worte aus der Agade: „Siehe! das ist die Kost, die unsere Väter in Ägypten genossen! Jeglicher, den es hungert, er komme und genieße! Jeglicher, der da traurig, er komme und teile unsere Paschafreude! Gegenwärtigen Jahres feiern wir hier das Fest, aber zum kommenden Jahr im Lande Israels! Gegenwärtigen Jahres feiern wir es noch als Knechte, aber zum kommenden Jahre als Söhne der Freiheit!“

Da öffnete sich die Saaltüre, und herein traten zwei große, blasse Männer, in sehr weite Mäntel gehüllt, und der eine sprach: „Friede sei mit euch, wir sind reisende Glaubensgenossen und wünschen das Paschafest mit euch zu feiern.“ Und der Rabbi antwortete rasch und freundlich: „Mit euch sei Frieden, setzt euch nieder in meiner Nähe. Die beiden Fremdlinge setzten sich alsbald zu Tische, und der Rabbi fuhr fort im Vorlesen………

Derweilen nun die schöne Sara andächtig zuhörte und ihren Mann beständig ansah, bemerkte sie, wie plötzlich sein Antlitz in grausiger Verzerrung erstarrte, das Blut aus seinen Wangen und Lippen verschwand und seine Augen wie Eiszapfen hervor-glotzten; – aber fast im selben Augenblicke sah sie, wie seine Züge wieder die vorige Ruhe und Heiterkeit annahmen, wie seine Lippen und Wangen sich wieder röteten, seine Augen munter umherkreisten, ja, wie sogar eine ihm sonst ganz fremde tolle Laune sein ganzes Wesen ergriff. Die schöne Sara erschrak, wie sie noch nie in ihrem Leben erschrocken war, und ein inneres Grauen stieg kältend in ihr auf, weniger wegen der Zeichen von starrem Entsetzen, die sie einen Moment lang im Gesichte ihres Mannes erblickt hatte, als wegen seiner jetzigen Fröhlichkeit, die allmählich in jauchzende Ausgelassenheit überging. Der Rabbi schob sein Barett spielend von einem Ohre nach dem andern, zupfte und kräuselte possierlich seine Bartlocken, sang den Agadetext nach der Weise eines Gassenhauers, und bei der Aufzählung der ägyptischen Plagen, wo man mehrmals den Zeigefinger in den vollen Becher eintunkt und den anhängenden Weintropfen zur Erde wirft, bespritzte der Rabbi die jüngern Mädchen mit Rotwein, und es gab großes Klagen über verdorbene Halskrausen und schallendes Gelächter. Immer unheimlicher ward es der schönen Sara bei dieser krampfhaft sprudelnden Lustigkeit ihres Mannes, und beklommen von namenloser Bangigkeit schaute sie in das summende Gewimmel der buntbeleuchteten Menschen, die sich behaglich breit hin und her schaukelten, an den dünnen Paschabroten knoperten, oder Wein schlürften, oder miteinander schwatzten, oder laut sangen, überaus vergnügt.

Da kam die Zeit, wo die Abendmahlzeit gehalten wird, alle standen auf, um sich zu waschen, und die schöne Sara holte das große silberne, mit getriebenen Goldfiguren reichverzierte Waschbecken, das sie jedem der Gäste vorhielt, während ihm Wasser über die Hände gegossen wurde. Als sie auch dem Rabbi diesen Dienst erwies, blinzelte ihr dieser bedeutsam mit den Augen und schlich sich zur Türe hinaus. Die schöne Sara folgte ihm auf dem Fuße; hastig ergriff der Rabbi die Hand seines Weibes, eilig zog er sie fort durch die dunkelen Gassen Bacherachs, eilig zum Tor hinaus auf die Landstraße, die den Rhein entlang nach Bingen führt………………

Unterhalb der Burg Sonneck, Lorch gegenüber, ungefähr wo jetzt das Dörfchen Niederrheinbach liegt, erhebt sich eine Felsenplatte, die bogenartig über das Rheinufer hinaushängt. Diese erstieg Rabbi Abraham mit seinem Weibe, schaute sich um nach allen Seiten und starrte hinauf nach den Sternen. Zitternd und von Todesängsten durchfröstelt stand neben ihm die schöne Sara und betrachtete sein blasses Gesicht, das der Mond gespenstisch beleuchtete, und worauf es hin und her zuckte wie Schmerz, Furcht, Andacht und Wut. Als aber der Rabbi plötzlich das silberne Waschbecken ihr aus der Hand riß und es schollernd hinabwarf in den Rhein; da konnte sie das grausenhafte Angstgefühl nicht länger ertragen, und mit dem Ausrufe: „Schadai voller Genade!“ stürzte sie zu den Füßen des Mannes und beschwor ihn, das dunkle Rätsel endlich zu enthüllen.

Der Rabbi, des Sprechens ohnmächtig, bewegte mehrmals lautlos die Lippen, und endlich rief er: „Siehst du den Engel des Todes? Dort unten schwebt er über Bacherach! Wir aber sind seinem Schwerte entronnen. Gelobt sei der Herr!“ Und mit einer Stimme, die noch vor innerem Entsetzen bebte, erzählte er: wie er wohlgemut die Agade hinsingend und angelehnt saß und zufällig unter den Tisch schaute, habe er dort zu seinen Füßen den blutigen Leichnam eines Kindes erblickt. „Da merkte ich“- setzte der Rabbi hinzu -, „daß unsre zwei späte Gäste nicht von der Gemeinde Israels waren, sondern von der Versammlung der Gottlosen, die sich beraten hatten, jenen Leichnam heimlich in unser Haus zu schaffen, um uns des Kindermordes zu beschuldigen und das Volk aufzureizen, uns zu plündern und zu ermorden. Ich durfte nicht merken lassen, daß ich das Werk der Finsternis durchschaut; ich hätte dadurch nur mein Verderben beschleunigt, und nur die List hat uns beide gerettet. Gelobt sei der Herr! Ängstige dich nicht, schöne Sara; auch unsre Freunde und Verwandte werden gerettet sein. Nur nach meinem Blute lechzten die Ruchlosen; ich bin ihnen entronnen, und sie begnügen sich mit meinem Silber und Golde. Komm mit mir, schöne Sara, nach einem anderen Lande, wir wollen das Unglück hinter uns lassen, und damit uns das Unglück nicht verfolge, habe ich ihm das letzte meiner Habe, das silberne Becken, zur Versöhnung hingeworfen. Der Gott unserer Väter wird uns nicht verlassen. – Komm herab, du bist müde; dort unten steht bei seinem Kahne der stille Wilhelm; er fährt uns den Rhein hinauf.“

Lautlos und wie mit gebrochenen Gliedern war die schöne Sara in die Arme des Rabbi hingesunken, und langsam trug er sie hinab nach dem Ufer.“

Die Erzählung von Heinrich Heine schildert die Legende von dem 1287 angeblich von Juden ermordeten Knaben Werner.

Volksglaube und Aberglauben machten diesen Werner zu einem wundertätigen Heiligen. Bacharach und Oberwesel wurden zu Zentren dieser Frömmigkeit. In Bacharach errichtete man eine Wallfahrtskirche, die heute als Ruine oberhalb der Sankt Peterskirche zu sehen ist. Der Versuch der Heiligsprechung Werners scheiterte. König Rudolf von Habsburg hatte den Reichsstädten Oberwesel und Boppard wegen der Pogrome an den Juden hohe Geldstrafen auferlegt. Das tat jedoch der Volksfrömmigkeit keinen Abruch. Auch in Oberwesel errichtete man Werner eine Kapelle. In dieser schmucklosen Kapelle kann man noch heute ein Altarbild aus dem 18. Jahrhundert mit dem ‘heiligen Werner’ sehen. Die Wernerverehrung ist eine historische Tatsache. Der Umgang mit dieser verhängnisvollen Geschichte macht betroffen. Wenn aus der Betroffenheit Konsequenzen gezogen werden, dann ist es gut. Das ehemalige St. Werner-Krankenhaus in Oberwesel heißt heute Loreley-Krankenhaus. Deutlicher wird das aber noch auf der Gedenktafel, die bei der Restaurierung der Ruine der Wernerkapelle in Bacharach angebracht wurde. Sie trägt folgende Inschrift:

‘Die Wernerkapelle zu Bacharach, 1289 – 1430 als einzigartiges hochgotisches Kunstwerk erbaut, als Wallfahrtskirche viel besucht, 1689 zerstört, wurde in der Zeit der Romantik als edelste aller Ruinen entdeckt. Nicht nur dies waren Gründe, sie vor dem Verfall zu bewahren.

Denn die Errichtung steht in denkwürdigem Zusammenhang mit der Ritualmordlegende um den Knaben Werner, die wüste Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger auslöste. Restauriert in den Jahren 1981 – 1996 mahnt die Wernerkapelle in unserer Zeit zum geschwisterlichen Umgang zwischen Christen und Juden.

„Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit deines auserwählten Volkes nicht mehr sahen und die Züge unseres erstgeborenen Bruders nicht mehr wiedererkannten. Wir entdecken nun, daß ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel im Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat die Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wußten nicht, was wir taten……“ Papst Johannes XXIII

Der ‘Werner’ ist kein Einzelfall. Salomon Maimon, geboren 1754 (oder 1753 ) in Nieszwicz in Litauen als Sohn des Josua und gestorben am 22.11.1800 in Niedersiegersdorf (Schlesien), Philosoph und als solcher Kritiker Kants, schreibt in seiner Lebensgeschichte, daß seinem Großvater, einem Gastwirt, auch einmal eine Leiche ins Haus geschmuggelt wurde. Der örtliche Pope wollte damit seine Schulden bei dem Gastwirt begleichen. Der Großvater wurde gefangen gesetzt und mehrmals gefoltert. Trotzdem blieb er dabei, daß er den Sack, in dem die Leiche steckte, von einem Biberfänger bekommen habe. Schließlich gelang es dieses Mannes habhaft zu werden und unter der Folter „sagte er aus, daß er vor einiger Zeit diesen toten Körper im Wasser gefunden und nach der Pfarre zum Begraben habe bringen wollen. Der Pfarrer aber habe zu ihm gesagt: Mit dem Begraben hat es noch Zeit. Du weißt, daß die Juden verstockt und daher in alle Ewigkeit verdammt sind. Sie haben unsern Herrn Jesum Christum gekreuzigt, und noch bis jetzt suchen sie christlich Blut, wenn sie es nur habhaft werden können, zu ihrem Osterfest, welches zum Zeichen dieses Triumphs eingesetzt ist. Sie brauchen es zu ihrem Osterkuchen. Du wirst also ein verdienstliches Werk tun, wenn du diesen toten Körper dem verdammten Juden von Pächter ins Haus praktizieren kannst. Du mußt dich freilich aus dem Staube machen, allein dein Gewerbe kannst du überall treiben. Auf dies Geständnis wurde der Kerl ausgepeitscht und mein Großvater in Freiheit gesetzt; der Pope aber blieb Pope.“

Der Pope aber blieb Pope. Was für eine Feststellung!

Am 2. Oktober 1990 sah ich zum erstem Mal mit eigenen Augen ein Relief an der Stadtkirche in Wittenberg, das ich bis zu diesem Datum nur aus der Literatur kannte. Die sogenannte Judensau. Hoch über dem Betrachter, aber doch gut erkenntlich, ist das Bild in den Sandstein der Stadtkirche eingemeißelt. Martin Luther kannte dieses Bild, das um 1304 entstanden ist. Er beschreibt es selbst: „Es ist hier zu Wittenberg an unsrer Pfarrkirchen eine Sau in Stein gehauen, da liegen junge Ferkel und Juden unter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner ein jüdischer Theologe – , der hebt der Sau das rechte Bein empor…… und guckt mit großem Fleiß der Sau in den Hintern, als wollte er etwas besonderes darin lesen“ Über dem Bild steht zu lesen: Rabini Schem Hamphoras.

Die evangelische Stadtkirchengemeinde hat am Fuße der Kirche, unterhalb dieses Bildes, vor einigen Jahren ein Bronzerelief in den Gehweg eingelassen, das eine hebräische und eine deutsche Umschrift trägt. Die Umschrift bezieht sich auf die Überschrift über der Judensau. Der Name Gottes ist für fromme Juden so heilig, daß sie ihn gar nicht aussprechen. Sie reden von HERR, ‘adonai’ oder dem NAMEN, ‘schem’. Die Kabbalisten, jüdische Mystiker haben aus diesem Denken ein ganzes System entwickelt, das dazu diente sich Gott zu nähern, ihn mit umschreibenden Namen benennen und loben zu können, ohne seine Heiligkeit zu verletzen. Für Außenstehende trugen die geheimnisvollen und deshalb unverständliche Gedanken dazu bei, die Juden der Gotteslästerung und der Zauberei zu zeihen. Für die Juden war der Schem Hamphoras der größte Namen Gottes. Diesen Namen und damit den Gott der Juden bringt die Skulptur mit der Sau, dem Tier das den Juden unrein war, in Verbindung. Die deutsche Umschrift des Bronzereliefs lautet: „Gottes eigentlicher Name der geschmähte Schem Hamphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“.

Bevor dieses Relief in den Boden eingelassen werden konnte, gab es sehr heftige und kontroverse Diskussionen. Da man in der ehemaligen DDR von staatlicher Seite eine Mitschuld an der Vernichtung der Juden generell leugnete, bestritt man auch die Notwenigkeit zu irgendwelchen Schuldbekenntnissen. So blieb es den Christen vorbehalten auf dieses Problem aufmerksam zu machen und ihre Betroffenheit auszudrücken.

Der Pfarrer der Stadtkirche erzählte, daß man in einem Vorgespräch gegenüber dem Vertreter des Rabbinats die Möglichkeit erwogen habe, das Bild der Judensau abhauen zu lassen. Der Rabbiner habe darauf entgegnet, das Bild sei ein historisches Dokument. Was nütze es, wenn es an der Kirche entfernt werde, aber in den Herzen und Köpfen der Menschen weiterlebe. Der Geist aus dem solche Bilder entstehen konnten, findet sich in einem Aufsatz Martin Luthers von 1543 :

„Erstens soll man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecken und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufen und zuschütten, daß kein Mensch einen Stein oder eine Schlacke davon sehe ewiglich. Und das soll man unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren tun, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentliches Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen nicht mit Wissen geduldet noch eingewilligt haben………

Zum andern soll man auch ihre Häuser des gleichen zerbrechen und zerstören. Denn sie treiben eben dasselbe darin, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder in einen Stall tun, wie die Zigeuner, damit sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie ohne Unterlaß vor Gott über uns Zether schreien und klagen.

Zum dritten soll man ihnen alle ihre Betbüchlein und Talmudisten (Lehrer) nehmen, in denen solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird……..

Anfangs hatte Martin Luther geglaubt, daß die Juden für die Sache der Reformation zu gewinnen seien. Später als er erkennen mußte, daß er sich darin getäuscht hatte, kam es zu den zitierten Ausbrüchen. Eine solche Sprache ist erschreckend. So sehr die Sprache und die Vorstellungen Martin Luthers erschrecken mögen, so blieb es doch dem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten, diese Vorstellungen in menschenverzehrende Realität umzusetzen. Das zeigt aber auch, daß große Geister der Geschichte nicht vor Verirrungen und Verwirrungen bewahrt bleiben. Und es zeigt weiter, daß jeder für die Kräfte, die er mit seinen Worten und Gedanken entfesselt, auch verantwortlich ist.

Elie Wiesel sagte einmal: „Der nachdenkliche Christ weiß, daß in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben ist.“

Im 19. Jahrhundert veränderte sich die Situation der Juden im Nassauer Land. Die Großherzogliche Regierung räumte den Juden Freiheiten und Rechte ein, die sie Stück für Stück aus der Ghettoisierung befreiten. Als Nassau preußisch wurde, wurden die Juden vor dem Gesetz gleichberechtigte Bürger des Landes. Alle Berufe standen ihnen offen. Hier muß man allerdings sagen, daß die Jahrhunderte langen Beschränkungen nachwirkten. Nach wie vor gab es unter dem Nassauer Landjudentum viele kleine Händler. In den Städte traf man sie als Geschäftsleute. Viele ergriffen jetzt geistige Berufe. Hand in Hand damit ging eine starke Assimilierung. Viele erlebten sich als Deutsche mit einer anderen Religion. In der Literatur findet man für diese Zeit auch den Begriff der Akulturation. Denn viele Juden haben in dieser Zeit mit zunehmender Assimilierung ihre eigene Identität und damit ihre eigene Kultur aufgegeben. Die Liebe der Juden zu dem „deutschen Vaterland“ war groß. Der Redakteur der Frankfurter Wochenzeitung: ‘Israelit’, Markus Lehmann, schrieb 1870: „Wir deutschen Juden sind Deutsche und nichts anderes.“ Das hatte zur Folge, daß im ersten Weltkrieg selbstverständlich auch 100 000 Juden für ihr Vaterland kämpften und 12 000 dafür ihr Leben ließen.

All das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß trotzdem in Teilen der Bevölkerung der Antisemitismus weiter gepflegt wurde. Das Gedankengut, das den Brunnen füllte, aus dem Hilter schöpfen konnte, stammte in wesentlichen Teilen aus dem vorigen Jahrhundert. Hier stimmt die Hauptthese des Buches von Daniel Goldhagen, daß der Antisemitismus unterschwellig immer vorhanden war, auch wenn die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts und die vor dem ersten Weltkrieg eine weitgehende Gleichstellung herbeiführen wollten. Richtig ist wohl, daß es verschiedene Strömungen gab, die nebeneinander existierten und lebten. Denn gerade in den Dörfern des Nassauer Landes gibt es viele Belege für ein unproblematisches Miteinander und Nebeneinander. Geschichte ist nie eindimensional. Deshalb können es auch Entwicklungen, die daraus hervorgehen, nicht sein. Trotzdem fragt ein verantwortungsvoller Umgang mit Geschichte nach den Ursachen, auch wenn diese sich nicht mehr in allen Fällen ganz erklären lassen. Oft bleibt nur die Feststellung der Fakten. Zu den Fakten gehört, daß die Meinungsmacher es verstanden haben aus einem wie- gestalteten Miteinander ein Gegeneinander zu machen. Dieses Umschlagen in Brutalität und Menschenverachtung verschlägt auch nach Jahrzehnten wegen der Art des Vorgehens noch den Atem.

„Schlimmer noch als das unverhohlene Propagieren von Ideen kann die atmosphärische ‘Unterwanderung’ eines geistigen Klimas sein. Das Phänomen kann kaum gefaßt und unter Kontrolle gebracht werden. Einer ausgearbeiteten Idee widerfährt es oft, daß sie bewußt gefälscht und mit großer Hingabe mißverstanden wird: Die Instrumentalisierung eines banalisierten Nietzsche im Dritten Reich illustriert diesen Prozeß ausgezeichnet. Das scheinbar wirkungslose Stammtischgeschwätz schuf erst das Klima, in dem ein Holocaust möglich wurde.“

Goldhagen formuliert sehr direkt und deshalb unausweichlich:

„Es waren Deutsche, die die Entscheidungen getroffen, die die Pläne erarbeitet, die organisatorischen Ressourcen mobilisiert und die Mehrheit der Vollstrecker gestellt haben. Will man die Durchführung des Holocaust verstehen und erklären, muß man also darlegen, warum Deutschen damals von einem derartigen Drang, Juden zu töten, beherrscht waren. Denn weil das, was über die Deutschen gesagt werden kann, für keine andere der beteiligten Nationen, auch nicht für sie alle zusammengenommen gilt – konkret: keine Deutschen, kein Holocaust -, müssen die deutschen Täter ins Zentrum der Betrachtung gestellt werden.“

Es ist müßig zu fragen: „Was wäre geschehen, wenn….?“ Verantwortliche Geschichtsschreibung, die Tacitus schon in seinen Annalen mit „sine ira et studio“ formuliert, läßt diese Frage nicht zu. Wobei ich gestehen muß, daß es mir schwer fällt, diese Maxime einzuhalten. Ich bekenne mich, auch wenn ich mich um Sachlichkeit bemühe, dazu, daß ich mit Sympathie schreibe. Dabei weiß ich, daß mir das letzten Endes nicht gelingen kann und gelingen wird. Denn das, was in unserem Jahrhundert unter deutscher Vorherrschaft geschah, ist beispiellos.

Der unterschwellige, unbewußte Antisemitismus, der sich bei wechselnder Motivation trotz anderslautender Gesetzgebung bis in das 2o. Jahrhundert durchgehalten hat, war das Brennmaterial, das zum Entflammen bereit war. Trotzdem bedurfte es eines Streichholzes und eines oder mehrerer Brandstifter.

Noch bevor Hitler an die Macht kam, hat er seine Einstellung zu den Juden und dem Judentum formuliert. Es war und ist nachzulesen. Nur einige Zitate:

„Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude.“

„Da der Jude …. niemals im Besitze einer eigenen Kultur war, sind die Grundlagen seines geistigen Arbeitens immer von anderen gegeben worden. Sein Intellekt hat sich zu allen Zeiten an der ihn umgebenden Kulturwelt entwickelt. Niemals fand der umgekehrte Vorgang statt.“

„Wären die Juden auf dieser Welt allein, so würden sie ebensosehr in Schmutz und Unrat ersticken wie in haßerfülltem Kampfe sich gegenseitig übervorteilen und auszurotten versuchen, sofern nicht der sich in ihrer Feigheit ausdrückende restlose Mangel jedes Aufopferungssinnes auch hier den Kampf zum Theater werden ließe.“

„Er ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.“

„So ist der Jude heute der große Hetzer zur restlosen Zerstörung Deutschlands. Wo immer wir in der Welt Angriffe gegen Deutschland lesen, sind Juden ihre Fabrikanten, gleich wie ja auch im Frieden und während des Krieges die jüdische Börsen- und Marxistenpresse den Haß gegen Deutschland planmäßig schürte, so lange, bis Staat und Staat die Neutralität aufgab und unter Verzicht auf die wahren Interessen der Völker in den Dienst der Kriegskoalition eintrat.

Die Gedankengänge des Judentums dabei sind klar. Die Bolschewisierung Deutschlands, d.h. die Ausrottung der nationalen völkischen Intelligenz und die dadurch ermöglichte Auspressung der deutschen Arbeitskraft im Joche der jüdischen Weltfinanz, ist nur als Vorspiel gedacht für die Weiterverbreitung dieser jüdischen Welteroberungstendenz. Wie sooft in der Geschichte, ist in dem gewaltigen Ringen Deutsch land der große Drehpunkt. Werden unser Volk und unser Staat das Opfer dieser blut- und geldgierigen jüdischen Völkertyrannen, so sinkt die ganze Erde in die Umstrickung dieses Polypen; befreit sich Deutschland aus dieser Umklammerung, so darf diese größte Völkergefahr als für die gesamte Welt gebrochen gelten.“

Brandstifter wie Hitler haben in aller Regel ihre Helfershelfer. Sie tragen Namen wie Göbbels, Himmler, Eichmann. Es gehört zum System, daß auch diese ihre Helfershelfer haben. Und diese wiederum auch. Die heißen dann Müller oder Hinz oder Kunz. So läßt sich ein perfektes System aufbauen, in dem Angst und Vernichtung regieren.

Göbbels hat regelmäßig Eintragungen in seinem Tagebuch gemacht. Darin erwähnt er auch die Ereignisse um Herschel Grünspan, der am 7. November 1938 ein Attentat auf den Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris verübte. Es war die Tat eines 17jährigen Einzelgängers, der auf seine Probleme aufmerksam machen wollte. Für Göbbels war das ein willkommener Anlaß zu der später ‘Kristallnacht’ benannten Aktion. Er notiert in seinem Tagebuch auch, welche Anweisungen er gegeben hat.

10. November 1938

„Das Befinden des von dem Juden angeschossenen Diplomaten [Ernst vom] Rath in Paris ist weiterhin sehr ernst. Die deutsche Presse geht mächtig ins Zeug … In Kassel und Passau … Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten vom Rath gemeldet. . .

Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.

Einige Gauredner machen schlapp. Aber ich rufe immer wieder alles hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen. Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen … Eine Synagoge wird in Klump geschlagen … Ich gebe nun ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was getan werden darf und was nicht. [Gauleiter Adolf] Wagner bekommt kalte Füsse und zittert für seine jüdischen Geschäfte. Aber ich lasse mich nicht beirren. Unterdeß verrichtet der Stoßtrupp sein Werk. Und zwar macht er ganze Arbeit. Ich weise [Abteilungsleiter im Propagandaministerium Werner] Wächter in Berlin an, die Synagoge in der Fasanenstraße zerschlagen zu lassen. Er sagt nur dauernd: „Ehrenvoller Auftrag“..

Ich will ins Hotel, da sehe ich am Himmel blutrot. Die Synagoge brennt. Gleich zum Gau. Dort weiß noch niemand etwas. Wir lassen nur soweit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig ist. Sonst abbrennen lassen. Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun die Meldungen ein: 50, dann 75 Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet, daß 20 – 30 000 Juden sofort zu verhaften sind. Das wird ziehen, Sie sollen sehen, daß nun das Maß unserer Geduld erschöpft ist … In Berlin brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn … Laufen lassen …

Als ich ins Hotel fahre. klirren die Fensterscheiben. Bravo! Bravo! Wie alte große Hütten brennen die Synagogen. Deutsches Eigentum ist nicht gefährdet. Im Augenblick ist nichts besonderes mehr zu machen. Ich versuche, paar Stunden zu schlafen.

Morgenfrüh kommen die ersten Berichte. Es hat furchtbar getobt. So wie das zu erwarten war. Das ganze Volk ist im Aufruhr. Dieser Tote [Emst vom Rath] kommt dem Judentum teuer zu stehen. Die lieben Juden werden es sich in Zukunft überlegen, deutsche Diplomaten so einfach niederzuknallen. Und das war der Sinn der Übung …

Führerrede im Bürgerbräu findet sehr aggressives Echo in London und Paris. Das war ja auch zu erwarten.

Wenn man den Kriegshetzern auf die Finger klopft, dann schreien sie auf. Den ganzen Morgen regnet es neue Meldungen. Ich überlege mit dem Führer unsere nunmehrigen Maßnahmen. Weiterschlagen lassen oder abstoppen? Das ist nun die Frage …

11. Novernber 1938

Gestern: Berlin.

Dort ist es ganz toll vorgegangen. Brand über Brand. Aber das ist gut so. Ich setze eine Verordnung auf Abschluß der Aktionen auf. Es ist nun gerade genug … Gefahr, daß der Mob in die Erscheinung tritt. Im ganzen Lande sind die Synagogen abgebrannt …

In der Osteria erstatte ich dem Führer Bericht. Er ist mit allem einverstanden. Seine Ansichten sind ganz radikal und aggressiv. Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 100 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt.

Mit kleinen Änderungen billigt der Führer meinen Erlaß betr. Abbruch der Aktionen. Ich gebe ihn gleich durch Presse heraus. Der Führer will zu sehr scharfen Maßnahmen gegen die Juden schreiten. Sie müssen ihre Geschäfte selbst wieder in Ordnung bringen. Die Versicherungen zahlen ihnen nichts. Dann will der Führer die jüdischen Geschäfte allmählich enteignen ,…. Ich gebe entsprechende Geheimerlasse heraus. Wir warten nun die Auswirkungen im Ausland ab. Vorläufig schweigt man dort noch. Aber der Lärm wird ja kommen …

Im Hotel weitere Arbeit Ich gebe noch ein paar Rundrufe heraus. Damit glaube ich ist die Judenaktion vorläufig erledigt. Wenn nicht noch ein paar Nachspiele kommen. Juden sind am Ende doch sehr dumm. Und sie werden ihre eigenen Fehler teuer bezahlen …

Nur in Bremen ist es zu einigen unliebsamen Exzessen gekommen…. Es kommen Meldungen aus Berlin über ganz enorme antisemitische Ausschreitungen. Jetzt geht das Volk vor. Aber nun muß Schluß gemacht werden. Ich lasse an Polizei und Partei dementsprechende Anweisungen ergehen. Dann wird auch alles ruhig …“

Jetzt war es klar. Das Ziel war abgesteckt. Die Vernichtung eines ganzen Volkes. Einen solchen Vernichtungswahn zu beschreiben dafür fehlen die Worte.

Selbst wenn man es unternimmt, sich an einen so kleinen Bereich wie den heutigen Rhein-Lahn-Kreis zu erinnern, so kann man auch hier die Spuren und die Folgen solcher menschenverachtenden Entscheidungen deutlich erkennen.

Die Judenschaft dieser Region kann man, wenn man von Bad Ems oder Diez absieht, unter dem Begriff ‘Nassauer Landjuden’ zusammenfassen. Das waren Menschen, die wie ihre christlichen Nachbarn auch durch Jahrhunderte hindurch um ihre Existenz gekämpft hatten. Anders als diese mußten sie aber auch mit einer Reihe von Einschränkungen leben. Aber sie hatten sich arrangiert und das Nassauer Land war ihre Heimat. Sie hatten sich neben ihrer Religion, dem Bekenntnis zu der Einzigartigkeit des Herrn, dessen Name unaussprechlich ist, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Traditionen bewahrt. Wobei gar nicht klar ist, was Ursache und was Wirkung ist. Das Festhalten am Bekenntnis der Väter hat sie von der christlichen Nachbarschaft getrennt. Die christlichen Nachbarn ließen ihnen meistens auch keine andere Wahl, indem sie den Juden die Gemeinschaft verweigerten. So feierten sie ihre eigenen Feste im Jahreskreis, das Pessachfest, das Laubhüttenfest, das Neujahrsfest u.a.

Der Lebenslauf des Einzelnen wurde von Festen und Traditionen begleitet. Es begann mit dem Fest der Beschneidung. Danach kam Bar Mizwa, das Fest, das für Knaben den Eintritt in das Erwachsenenalter bedeutete. Damit war auch die Religionsmündigkeit verbunden. Die Knaben, die erstmals öffentlich aus der Torah vorlasen, wurden fortan zu den Männern gezählt, die notwendig waren, um einen gültigen Gottesdienst feiern zu können. Zur Hochzeit schenkte die Braut dem Bräutigam ein Leinenhemd, das dieser an hohen Feiertagen trug und das einmal sein Totenhemd sein würde. Schließlich ging es um die Begleitung auf dem letzten Weg über diese Erde, die Beerdigung. Von allen Stationen in einem jüdischen Leben ist diese noch am ehesten faßbar, weil die Gräber und die Friedhöfe, trotz mancher Übergriffe und Verwüstungen immer noch erhalten sind.

Die Rollen von Mädchen und Knaben, von Männern und Frauen waren und sind bei diesen Feiern unterschiedlich. Das gilt auch für die Feste, die die Familie durch das Jahr begleiteten. Wenn bei den unterschiedlichen Rollen schnell der Anschein erweckt werden könnte, daß die Knaben und die Männer stark in den Vordergrund treten, so ist es doch Tatsache, daß nur die Frauen das Judentum an die nächste Generation weitergeben. Nur die Kinder einer jüdischen Mutter sind von Geburt an Juden.

Es war und ist der Wunsch eines jeden frommen Juden mit den Worten des ‘Sch´ma Jisrael’ auf den Lippen zu sterben. Wenn der Sterbende nicht dazu in der Lage war, konnten auch nächste Angehörige oder Anwesende das Bekenntnis zu dem einen HERRN sprechen. Als Zeichen der Trauer konnten Kleidungsstücke eingerissen werden. Direkt nach dem Tod wurde eine Kerze angezündet, die dreißig Tage brennen sollte.

Im Todesfalle war es Aufgabe der Heiligen Bruderschaft, der „Chewra Kaddischa“ die Beerdigung auszurichten. Damit war die Familie frei für den Abschied und die Trauer. Der Leichnam wurde unter Gebeten gewaschen und gekleidet. Er wurde zunächst auf den Boden gelegt, mit den Füßen zur Tür hin. Am Tag der Beerdigung wurde der Sarg über den ganzen Friedhof getragen und mehrmals abgesetzt, während der Rabbiner die vorgeschriebenen Gebete sprach. Der Sarg war ein einfacher Holzsarg aus unbehandelten Brettern. In den Sarg legte man nach Möglichkeit ein Säckchen mit Erde aus Israel. Daran knüpfte sich der Wunsch und die Vorstellung, daß einmal bei der Ankunft des Messias auch die Verstorbenen in der Diaspora in seinen Triumpfzug einbezogen werden mögen. Nach der Beisetzung wurde der Sarg von den Männern, die der Beerdigung beiwohnten, nicht nur symbolisch, sondern ganz real mit Erde bedeckt. Der älteste Sohn hatte dann die Aufgabe das Kaddisch zu sprechen. Die Worte, die auch an den Gedenktagen wiederholt werden, reichen bis in die Zeit der Zerstörung Jerusalems zurück. Sie reden nicht von der Trauer, sondern sie sind ein Lobpreis Gottes.

Das KADDISCH

(»Heiligkeitsgebet«)

Groß und geheiligt werde Sein stattlicher Name in der Welt, die Er geschaffen nach seinem Willen, und es möge eingesetzt werden Seine Herrschaft während eures Lebens und eurer Tage und während des Lebens des ganzen Hauses Jisrael, bald in naher Zeit

So sprechet:Amen!

Es sei sein stattlicher Name gepriesen in Ewigkeit, immer und ewig! Gepriesen, gelobt, verherrlicht, erhoben, erhöht, verehrt, emporgehoben und gerühmt sei der Name des Heiligen, gepriesen sei ER, hoch über alle Lobpreisungen, Lobgesänge, Verherrlichungen und Trostsprüche, die da gesprochen werden in der Welt

So sprechet:Amen!

Es mögen die Gebete und Bitten von ganz Jisrael empfangen werden von ihrem Vater im Himmel

So sprechet:Amen!

Möge umfassender Friede vom Himmel und Leben kommen über uns und über ganz Jisrael

So sprechet:Amen!

ER, der bewirkt Frieden in seinen himmlischen Sphären, er möge Frieden wirken über uns und über ganz Jisrael So sprechet:Amen!

Wenn der Mensch nichts mehr tun kann, wenn Menschen nichts mehr für ihre Lieben tun können, liegt alles in der Hand dessen, der Herr über Leben und Tod ist. Warum dann nicht den loben, der durch den Propheten Jesaja zu dem Menschen sagt: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“

Nach der Beisetzung folgte die eigentliche Trauerzeit. Die Familie sollte sieben Tage lang wenigstens eine Stunde pro Tag auf dem Boden oder auch auf Hockern sitzen. Während dieser Tage war den Trauernden auch das normale Studium nicht erlaubt. In dieser Zeit soll an der Stelle, an der der Tote gelegen hat, eine Kerze brennen. Manche Trauernde lassen die Kerzen auch einen Monat brennen. Wenn die Trauer den Eltern gilt, kann die Kerze auch ein ganzes Jahr brennen.

Die Nassauer Landjuden lebten in dem durch ihre Feste und die Höhepunkte des Lebens gesteckten Rahmen. Bis in die dreißiger Jahre hinein funktionierte dieser Rahmen, wenn auch unter immer schwierigeren Umständen, als Orientierung. Mit der Machtergreifung Hitlers gab es keine Freiräume mehr zum Leben für die Juden. Auswandern war oft nur für die Jüngeren und für die mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestatteten möglich. Für die Älteren gab es keine Wahl. Sie warteten bis sie abgeholt wurden. Für viele führte der Weg über Sammellager wie Friedrichssegen nach Frankfurt und dann in den Osten, wo sich ihre Spuren in den Konzentrationslagern verlieren.

Es ist heute schwierig das Verlöschen jüdischen Lebens ganz nachzuvollziehen. Denn auch nach 60 Jahren ist der Umgang mit diesem Teil der Geschichte emotionsbeladen. Das zeigen nicht zuletzt die Debatten um mancherlei Gedenksteine und Gedenktafeln. Es gibt bis heute noch Zeitzeugen, die persönliche Erinnerungen haben. Die einen wissen um eigene Schuld. Andere sind objektiv ohne Schuld. Trotzdem glauben sie sich für etwas verantworten zu müssen, was zwar in ihrer unmittelbaren Umgebung geschah, zu dem sie aber aktiv nichts beigetragen haben. Was geschah, war aber nur möglich, weil anfangs viele weggeschaut haben. Später mag mancher aus Angst um die eigene Existenz geschwiegen haben. Daß es auch Menschen gab, die mit viel Zivilcourage und im Extremfall auch unter Lebensgefahr sich für ihre jüdischen Nachbarn oder Freunde eingesetzt haben, soll nicht verschwiegen werden.

Es paßt in diesem Zusammenhang in das System, daß bei Aktionen wie der Reichspogromnacht Täter meist nicht aus dem eigenen gesellschaftlichen Umfeld auftraten. Es gehörte weniger Mut dazu einem fremden Menschen ins Gesicht zu schlagen als einem, mit dem man vielleicht Jahrzehnte Haus an Haus gewohnt hatte. Das Vorgehen war sublim und zeigt deshalb heute noch Wirkungen.

Wenn ich bei der Erwähnung einzelner Gemeinden die eine oder andere Begebenheit oder besondere Vorkommnisse erzähle, dann heißt das nicht, daß die Verhältnisse in diesen Gemeinden schlimmer waren als in anderen Ortschaften. Oft war es nur Zufall, daß ich auf entsprechende Informationen gestoßen bin. Darum sind diese Begebenheiten nur winzige Mosaiksteine in einem Gesamtbild, das die Unterschrift trägt : Vernichtung von 6 Millionen Juden.

Die Bilder dieses Buches sind überwiegend Momentaufnahmen vom Oktober 1990. Inzwischen sind einige Jahre vergangen. Deshalb können die Aufnahmen nicht mehr in allen Fällen den heutigen Zustand darstellen. Bewußt habe ich für die Aufnahmen dieses Buches den Herbst als Jahreszeit gewählt. Der Herbst zeigt noch etwas von dem Licht des Sommers. Er läßt Vergangenes ahnen. Ihm wohnt aber jenseits des Winters auch schon die Hoffnung auf einen Frühling inne. Seit dem Erscheinen meines Buches über den Kreis Limburg – Weilburg, dessen Bilder ich im Winter, teils im Schnee, der keine Spuren zeigt, aufgenommen habe, hat sich etwas verändert. In vielen Menschen ist ein Interesse für diese Seite ihrer Geschichte erwacht. Hinzukommt, daß die kleinen jüdischen Gemeinden in den Städten zur Zeit wegen des Zuzuges jüdischer Familien aus Rußland wieder wachsen. Das ist kein Frühling und auch kein Sommer. Aber es ist vielleicht eine Ahnung davon. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß die wachsenden Gemeinden zum Teil auch wieder von einem neuen Antisemitismus zu berichten wissen. Principiis obsta!

Für die Konzeption dieses Buches ist die Statistik in den einzelnen Kommunen – auch in ihrer Wiederholung – wichtig. Dabei spielen die einzelnen Zahlen keine so große Rolle. Denn sie sind nicht immer ganz gesichert. Paul Arnsberg hat schon sehr früh eine Aufstellung geliefert. In dem Archiv von Yad Vashem liegen die Ergebnisse von Befragungen, die direkt nach dem Kriege an die Gemeinden gingen. Die nach heutigem Ermessen genauesten Zahlen bietet ein Werk, das in den letzten Jahren erarbeitet wurde: Pinkas Hakehillot, Germany. In dem dritten Band sind die Gemeinden des Rhein – Lahn – Kreises erwähnt. Mit atemberaubender Deutlichkeit zeigen die nüchternen Zahlen der Statistik das Verlöschen des Judentums in dem begrenzten Bereich des Rhein – Lahn – Kreis. Durch Jahrhunderte gab es jüdisches Leben in den Gemeinden zwischen Rhein und Lahn. Zu Beginn der vierziger Jahre war es ausgerottet. Die Statistik gibt nur den Herzschlag einstigen Lebens wieder. Am Ende steht ein Strich, gleichbedeutend mit dem Verlöschen jeglichen Lebens. Die stakkatoartige Wiederholung der Zahlen ist mir wichtig.

Wie eingangs bereits gesagt: Ich wollte eigentlich kein Buch schreiben. Außerdem möchte ich nicht die vielen kenntnisreichen Einzeluntersuchungen zu Gemeinden und Kommunen im Rhein – Lahn – Kreis zusammenfassen oder ersetzen. Es wäre aber schön, wenn diese Untersuchungen einmal zusammengeführt würden.

Manchmal ist es gut, wenn man die notwendigen Anstöße und Anregungen von außen bekommt. In diesem Zusammenhang möchte Herrn Abraham Frank, Jerusalem, außerordentlich danken. Denn er hat den entscheidenden Anstoß nach dem Erscheinen meines Buches über den Kreis Limburg – Weilburg 1988 gegeben. Gleichzeitig verdanke ich Herrn Frank eine Vielzahl von Informationen, die mir ohne seine Mitarbeit nicht zugänglich gewesen wären. In mancherlei persönlichen Gesprächen und in einem intensivem Briefwechsel hat Herr Frank wesentlich zu dem Zustandekommen dieses Buches beigetragen. Mir war aber auch aus einem anderen Gesichtspunkt seine Begleitung wichtig. Wenn man es als Außenstehender, als evangelischer Christ, als Pfarrer unternimmt über jüdisches Leben und Judentum zu schreiben, ist es unbedingt notwendig, daß man sach- und fachkundige Korrektur, die aus gelebter Erfahrung schöpft, erfährt.

Also noch einmal: Herzlichen Dank in der Verbundenheit um das Wissen der Einzigartigkeit des Herrn, der der Schöpfer des Himmels und der Erde ist.

Eines ist noch zu sagen. Und ich stelle es bewußt an das Ende dieses Vorwortes. Martin Niemöller, der erste Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, unter dem ich mein erstes Examen ablegte, hat sich selbst nach dem Krieg angklagt, daß er in den Auseinandersetzungen mit Hitler, die ihn selbst in das Konzentrationslager Dachau führten, nicht für die Juden eingetreten sei.

Nach der Aufklärung und mit zu nehmender Säkularisierung spielte christliches Gedankengut zur Rechtfertigung des Antisemitismus sicher eine immer geringere Rolle. Aber die Kirchen und ihre Theologen haben bis auf wenige Ausnahmen den Antisemitismus billigend oder sogar aktiv mitgetragen. Im Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Nassau vom 16. September 1933 steht auf der ersten Seite die Verordnung über die Versetzung in den Ruhestand des Landesbischofs D. Kortheuer. Er paßte nicht in das neue System. Auf der nächsten Seite steht das Kirchengesetz betreffend die Dienstverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten. In Paragraph 1, Absatz 2 heißt es: „Wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Geistlicher oder Beamter der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden. Geistliche oder Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen sind zu entlassen.“ § 3, Absatz 1: „Geistliche oder Beamte, die nach ihrer bisherigen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat und die Deutsche Evangelische Kirche eintreten, können in den Ruhestand versetzt werden.“ § 3 Absatz 2: „Geistliche oder Beamte, die nichtarischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.“ Veröffentlicht ein halbes Jahr nach der Machtergreifung und verschickt an alle Gemeinden und Pfarrer in Nassau. Ich konnte den Text aus dem Archiv der Kirchengemeinde, in der ich tätig bin, heraussuchen.

Aus heutiger Sicht ist es leicht für die richtige Seite Partei zu ergreifen.

Ich bin dankbar, daß meine Kirche, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, den Grundartikel, auf den alle Pfarrerinnen und Pfarrer in Hessen und Nassau ordiniert und verpflichtet werden, um einen Absatz ergänzt hat. Er lautet: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die evangelische Kirche in Hessen und Nassau) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“