Jüdisches Leben in Nastätten und Miehlen in der Zeit von 1933 bis 1945

Nur aufmerksame Beobachter werden in Nastätten zwei Orte erkennen, an denen man an ehemals jüdische Mitbürger erinnert wird; der versteckte jüdische Friedhof im Oranienwäldchen am Mühlbach an der Diethardter Straße und eine Gedenktafel, angebracht im Juli 1987 vor dem Parkplatz Ecke Brühlstraße/Rheinstraße. Dort stand bis 1939 die jüdische Synagoge. Diese wurde nach den Zerstörungen durch die „Reichspogromnacht“ und nach der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 verkauft und abgerissen, der ehemalige Standort wurde eingeebnet und wird heute als Parkplatz benutzt. 50 Jahre später, im November 1988, fand in Nastätten zur „Reichspogromnacht“ eine Gedenkfeier statt. Rund 250 Bürger sowie die beiden Nastätter Pfarrer und der Kantor Roman Abraham M. Padaver nahmen an dem Gedenktag im Bürgerhaus teil. Gleichzeitig stellte Pfarrer Schubert seine Dokumentation „Zur Erinnerung an die Judenverfolgung in Nastätten“ vor.

In Miehlen wird man den außerhalb des Ortes, am Ehrlichsberg gelegenen jüdischen Friedhof finden. Nach dem Standort der Synagoge wird man vergeblich suchen. Selbst der Versuch der CDU-Gemeinderatsfraktion scheiterte, als sie am 19. August 1984 im Rat die Anbringung einer beschrifteten Holztafel an der Miehlener Grill – und Schutzhütte beantragte. Als Text schlug die Fraktion vor: „Die alte Dreschhalle gehörte bis zum Jahre 1938 zum Anwesen des Miehlener Viehhändlers und Juden Aron Friedberg. 1946/47 wurde sie abgelegt und an ihrem heutigen Standort wieder aufgebaut…“. Mit dem Anbringen dieser Holztafel hätte der Gemeinderat Miehlens ein Zeichen gesetzt und sich zu den „dunkelnden Zeiten“ seiner Heimatgeschichte gestellt. Die Spuren ehemals jüdischen Lebens sind in Miehlen wie in Nastätten verwischt. Und kein Straßennamen und kein Platz erinnern an sie.

Nastätten heute zentraler wirtschaftlicher Mittelpunkt für den westlichen Rhein-Lahn-Kreis, galt schon im 20. Jahrhundert als Handelsort für die umliegenden Dörfer.

Durch ihren Handel – und Gewerbebetrieb und der sich daraus resultierenden Steuerzahlungen an die Stadt Nastätten unterstützte die jüdische Bevölkerung enorm die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Heimatgemeinde. Man fand sie tätig im Viehhandel, als Metzger, als Inhaber von Kolonialmanufaktur – und Kurzwarenläden, von einem Möbelgeschäft, von einem Herrenbekleidung sowie einem Konfektionsgeschäft, von Lederwarenhandlungen eines gekoppelt mit einem Fahrradgeschäft, von einem Porzellanladen, einem Kohlengeschäft, sowie einem Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, Düngemittel, Kohlen und Briketts.

Durch diese wirtschaftliche Ausgangslage konnte am 5. und 6. August 1904 die jüdische Kultusgemeinde Nastätten mit großer Beteiligung der Nastätter Bürger und Bürgerinnen die Einweihung ihre neue Synagoge Ecke Brühlstraße/Rheinstraße feiern. Der alte Gebetsraum in der Jurreschul, einem Wohnhaus von Gustav Oppenheimer Ecke Römer/Poststraße wurde für die angewachsene Gemeinde zu klein. Der Rhein- und Lahnanzeiger berichtete am 10. August in seiner Ausgabe: „Die rege Anteilnahme der Einwohner Nastättens gleichviel welcher Konfession sie angehören, lieferte den sprechendsten Beweis, daß sie alle stets darauf bedacht sind, das ihre zur Wahrung des religiösen Friedens innerhalb der Stadtmauern und auch darüber hinaus, beizutragen. Und das ist gut so!“.

Der Bericht des Anzeigers gab die Stimmung zwischen Christen und Juden richtig wieder. Im alltäglichen Leben gestaltete sich das Zusammenleben als „normal“. Man war untereinander befreundet, nahm am gesellschaftlichen und politischen Leben gemeinsam teil. Im Stadtparlament amtierte 1919 Hermann Hennig vom Hofgut Schwall sowie Adolf Aronthal, der schon vor der Jahrhundertwende diesem Gremium angehörte. Und von 1924 bis 1929 war der langjährige Kultusvorsteher Julius Leopold als Vorsteher des Stadtparlaments tätig. Gerade in der schlechten Wirtschaftslage der 20er Jahren stand die jüdische Bevölkerung nicht nur mit finanzieller Unterstützung zur Stelle. Im Juli 1922 konnte die Stadt Nastätten die Adolf-Oppenheimer-Wohlfahrtsstiftung entgegennehmen. Adolf Oppenheimer, war ein Sohn des Isaak Oppenheimer, ein Nachkomme des 1836 von Nastätten nach England ausgewanderten Karl Oppenheimer, dieser hatte testamentarisch der Stadt Nastätten eine Summe von 150.000 Mark hinterlassen.

In Miehlen, einer der größten Nachbargemeinden von Nastätten, hatte die dortige Kultusgemeinde mit privaten Mitteln des Aron Friedbergs, Samuel Strauss und Moritz Strauss bereits 1873 in der Hauptstraße eine Synagoge erbaut, nachdem der Betsaal im Wohnhaus des Mayer Heilbronns abbrannte. Diese Synagoge, die nach der „Reichspogromnacht“ immer mehr verfiel wurde 1964 niedergelegt, nachdem sie ein Privatmann kaufte und dort sein Wohnhaus vergrößerte. An den Standort der ehemaligen Synagoge erinnert heute nichts!

Wie in der Nachbargemeinde trugen auch hier die jüdischen Mitbürger am wirtschaftlichen Aufbau von Miehlen bei. Sie waren Inhaber einer Sattler- und Polsterei, von Manufaktur- und Kurzwarengeschäfte, einer Metzgerei, eines Kaufhaus und waren als Viehhändler, Getreide- und Futtermittelhändler, Gemischtwarenhändler, Schneider und Hausangestellte tätig. Das Kaufhaus von Emil Friedberg führte Lebensmittel, Konfektionen, Stoffe aller Art, Betten mit Matratzen und Fahrräder mit Ersatzteilen. Der Sohn Alfred Friedberg beschrieb das Kaufhaus in einem späteren Schriftwechsel: „Nach hiesigen ländlichen Maßstäben hatte das Geschäft einen bedeutenden Umfang. Der Kundenkreis bestand nicht nur aus den Einwohnern von Miehlen sondern auch aus einer größeren Anzahl der Einwohner von Orten aus der Umgebung“.

Mit der Inflation und der einhergehenden Verschlechterung der Wirtschaftslage bekommen die Nationalsozialisten Auftrieb. In Nastätten wird der 6. März 1927 als markantes Datum Einzug in die Geschichte nehmen. Was geschah an diesem Tag? Durch die antisemitischen Parolen der Nationalsozialisten beunruhigt, lud der jüdische Landwirt Hermann Hennig vom Hofgut Schwall aus Nastätten am Sonntag, den 6. März nachmittags zu einer Veranstaltung über „Das wahre Gesicht der Nationalsozialisten“ in das Hotel Guntrum ein. An die 700 Personen wollten an dieser politischen Veranstaltung teilnehmen, auf der Rednerliste standen der Rabbiner Dr. Levy aus Mainz, Dekan Sauer und Pfarrer Kochem aus Nastätten sowie Pfarrer Pfeifer aus Diethardt. Doch die Veranstaltung konnte wegen Überfüllung des Saals nicht durchgeführt werden. Unter den Teilnehmenden befanden sich Nationalsozialisten aus Nastätten, dem Kreis St. Goarshausen sowie 150 aus dem Umkreis von Wiesbaden und Koblenz, die diese Veranstaltung zu ihren propagandistischen Zwecken benutzen wollten. Ein von den Nationalsozialisten provoziertes Handgemenge mit zahllosen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung endete mit dem Tod des 17jährigen Singhofener Wilhelm Wilhelmi, der noch auf dem Weg zum Krankenhaus in die SA aufgenommen wurde und als Märtyrer für die Bewegung starb. In den darauffolgenden Jahren fanden regelmäßige Grabfeiern statt, im März 1934 brachten die Nationalsozialisten eine Gedenktafel am Hotel Guntrum an und benannten die ehemalige Römerstraße in die Wilhelm-Wilhelmi-Straße um. Konsequenzen hatte es für die damaligen Terrortruppe keine. Das Landgericht Wiesbaden verurteilte sie am 29. Februar 1928 zu niedrigen Gefängnisstrafen auf Bewährung.

Zur Reichstagswahl am 6. November 1932 stimmten in Nastätten 661 von 999 Wählern für die NSDAP, zur Reichstagswahl am 5. März 1933 waren es 820 von insgesamt 1161 Stimmen. In Miehlen sah es ähnlich aus. 1932 strimmten für die NSDAP 581 von 790. Zu der Reichstagswahl am 5. März 1933 brachte es die NSDAP auf 663 Stimmen von insgesamt 862.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 erhielt der Antisemitismus seine Legalität. Zu diesem Zeitpunkt zählte Nastätten an die 70 und Miehlen an die 50 jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen.

Zu den ersten Ausschreitungen gegen die jüdische Mitbevölkerung zählte der am 1. April 1933 reichsweit durchgeführte Judenboykott. In Nastätten und Miehlen begegnete man den Parolen: „Wer von Juden frißt, stirbt daran“ oder „Deutsche kauft nicht bei Juden“, „Juden sind hier unerwünscht“. Miehlener Zeitzeugen berichteten: „Man hielt sich zwar an den Boykott, doch bei anbrechender Dunkelheit wagten einige trotzdem beim jüdischen Händler einzukaufen“. In Miehlen brachte man eigens dafür eine Holztafel, den sog. Pranger, am Rathaus an, um öffentlich bekannt zu machen, welche Miehlener Bürger oder Bürgerinnen bei einem Juden eingekauft hatten. Ein Miehlener, der an diese Tafel schrieb:“ Wo ich etwas verdiene kaufe ich ein“, saß dafür für einige Tage in Schutzhaft im Polizeigefängnis St. Goarshausen. Einige Tage nach dem Boykott soll sich folgender Zwischenfall in Miehlen ereignet haben: Ein Bett, daß von einem Miehlener Bürger im Kaufhaus des Juden Friedberg gekauft wurde, soll kurzerhand von einem Parteigenossen in den Mühlbach geworfen worden sein.

Schlagartig verschlechterten sich in Miehlen und in Nastätten die gesellschaftlichen Beziehungen von Christen und Juden durch die nationalsozialistischen Hetzkampagnen und Verordnungen. Im Mai 1933 schloß sich der Nastätter Handwerker- und Gewerbeverein dem Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand an. Sein ganzes Augenmerk galt der Vernichtung von jüdischen Geschäften. „Kauft nur im christlichen Geschäft, werdet nicht zum Verräter der deutschen Sache dadurch, daß ihr beim Juden kauft. Meidet die Juden: Stern, Grünewald, Leopold, Aronthal und Heymann“, konnte man am 3. Mai 1933 im Nassauischen Volksblatt lesen. Am 27. Mai berichtete das gleiche Blatt: „Wir wollen wieder zurück zur Preisehrlichkeit (…) aus diesem Grunde sind wir der größte Feind der jüdischen Ramschbasare und Kaufhäuser, wo die betrogene Käufer mit Schundware und zu angeblich billigen Preisen eingeseift werden“.

Für die jüdischen Mitbürger war kein Platz mehr. Es wurde immer offensichtlicher, daß man ihre Existenzgrundlagen vernichten wollte. Diese klaren Kampfansagen führten bereits im Mai 1933 zu den ersten Emigrationen. Kurt Grünewald wanderte am 5. Mai 1933 nach Tel Aviv (Palästina) aus, der Kaufmann Hans Strauss wanderte am 13. Mai 1933 nach England und Familie Heymann am 23. November 1933 nach New York (USA) aus. 1935 gingen noch weitere jüdische Mitbürger in die Emigration; Familie Aronthal, Familie Grünewald und Familie Herz. Robert Aronthal, so erzählte später seine Tochter Marianne, soll von einem SA-Mann aus der Rheinstraße, der Steinchen an ein Fenster warf, mit den Worten „Robert geh fort! gewarnt worden sein. Familie Gruenewald konnte dank der Unterstützung eines Nastätter Schuhmachers, der ihnen die Schuhe mit Hohlräumen versah, dort Geld verstecken, daß ihnen auf der Reise nach Palästina sehr geholfen hatte.

Im August 1938 sollten von dem einst blühenden jüdischen Geschäftsleben nur noch das Kurzwarengeschäft von Rückersberg in der Römerstraße und die Polsterei von Stein in der Rheingaustraße existieren, die restlichen Gewerbetreibenden verkauften meist unter Druck ihre Geschäfte. Die bevorzugten Einreiseländer der Nastätter Juden waren Palästina, Argentinien, Südafrika, England und die USA.

Die Miehlener Juden bekamen ebenfalls die antisemitischen Feindseligkeiten zu spüren. Am 16. Oktober 1933 verließ der erste jüdische Bürger Miehlen. Es war der Schüler Max Friedberg, der von Diez am 6. Juli 1936 nach Palästina auswanderte. Die Familie Emil Strauß, die eine Vieh-, Getreide- und Futtermittelhandlung betrieb mußte wegen des nationalsozialistischen Boykotts 1934 Miehlen verlassen und versuchte in Niederlahnstein eine neue Existenz aufzubauen. Ein Jahr später mußte auch dort die Familie ihr Geschäft schließen.

Aufgrund des wirtschaftlichen Boykotts beantragten 1935 die jüdischen Viehhändler Nathan Hermann, Walter Ermann, Bernhard Friedberg und Salomon Friedberg ein polizeiliches Leumunds- und Führungszeugnis für die Befreiung vom Umsatzsteuerheft. Dieses Anliegen wurde ihnen mit der Begründung: „In Anbetracht der nichtarischen Abstammung und letzten Endes auch wegen der politischen Unzuverlässigkeit..“ verwehrt.

Nicht nur der wirtschaftliche Boykott machte der jüdischen Bevölkerung in Miehlen schwer zu schaffen. Im Zusammenhang mit der späteren Anklage wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, wurde bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Koblenz bezüglich der „Judenpogromnacht“ 1938 in Miehlen festgestellt, daß hier von zwei Judenaktionen gesprochen werden muß. Die ersten Aktionen haben bereits 1933/1934 stattgefunden. Die Fensterscheiben des Emil Friedbergs waren eingeschlagen worden, beim Viehhändler Nathan Hermann waren von der Straße aus mit einem Infanteriegewehr mehrere Schüsse auf das im 1. Stock gelegene Schlafzimmer abgegeben worden. Und bei Emil Strauß soll ein großer Stein durch ein geschlossenes Fenster im ersten Stock geworfen worden sein. Einen Sprengkörper warf man den Juden Walter Ehrmann in den Hausflur. Dort entstanden erhebliche Sachbeschädigungen. In allen Fällen soll es keine Verletzte gegeben haben. Darüber hinaus sollen des öfteren Hunde vergiftet worden sein, indem man vergiftetes Fleisch in den Hof geworfen hatte. Diese Ausschreitungen sollten sich noch 1935 fortsetzen. In dem Lagebericht für die Provinz Hessen-Nassau der Gestapo für den Monat September 1935 heißt es: „Auch im Monat September wurde die Agitation gegen die Juden in umfassender Weise fortgesetzt. Hierbei kam es wiederum zu Ausschreitungen. So wurden die Synagogen in Ruppertshofen und in Miehlen erbrochen und teilweise verwüstet. Bei mehreren Juden wurden Fensterscheiben eingeworfen. Die Ermittlungen nach den Tätern blieben erfolglos“.

Nachdem am 15. September 1935 die Nationalsozialisten während ihres Parteitages in Nürnberg die „Nürnberger Gesetze“ verkündeten, war es für den letzten jüdischen Zweifler klar, daß die Nationalsozialisten mit ihrer antisemitischen Hetze Ernst machen.

Die Boykottmaßnahmen und diskriminierenden Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung verschärften sich immer mehr. Mit den Nürnberger Gesetzen leitete die Reichsregierung nun den biologischen Antisemitismus ein, an deren Ende die physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stehen sollte. Den vorläufigen Höhepunkt der Verfolgungen bildeten die „Novemberpogrome“ 1938. Bereits im Januar des gleichen Jahres soll es zu Übergriffen gegen jüdische Bürger in Miehlen gekommen sein. Eine später emigrierte Miehlener Jüdin berichtete: „Wir hatten sehr viel durch die Nationalsozialisten in Miehlen zu leiden. Die Belästigungen und das Einwerfen der Fensterscheiben waren nicht mehr zu ertragen. In einer Nacht im Januar 1938 wurde ein Sprengkörper in unser Haus geworfen, wodurch sehr viel Schaden entstand. Dabei wären wir bald ums Leben gekommen“.

In Miehlen kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu Ausschreitungen. Der Befehl zur Durchführung der Judenaktion im Kreis St. Goarshausen wurde am 9. November nachmittags durch die Kreisleitung in St. Goarshausen an die örtlichen Stellen durchgegeben. Zu dieser Zeit wohnten noch folgende jüdische Bürger in Miehlen: Alfred und Hildegard Friedberg, die sich in Stuttgart aufhielten, um dort ein Ausreisevisum entgegenzunehmen. Hermann Strauß, Sally und Irma Strauß, Familie Jakob Strauß und Berle Strauß.

Anhand der Ermittlungen der Koblenzer Staatsanwaltschaft gegen Miehlener Bürger wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit konnte der Ablauf der „Pogromnacht“ in Miehlen rekonstruiert werden. Am Abend des 9. Novembers 1938 fand im Hause eines Miehlener Bürgers eine Nachfeier der Hochzeit seines Sohnes statt. Bei diesen Festlichkeiten nahmen u.a. führende und überzeugte Nationalsozialisten aus Miehlen teil. Später entstand das Gerücht, daß die örtlichen Judenaktionen von dieser Hochzeitsfeier ausgegangen seien. In den späteren Ermittlungen darauf angesprochen, wehrten sich die Angeklagten gegen den Vorworf: „es wären noch Frauen auf der Hochzeitsfeier zugegen gewesen, in deren Gegenwart wohl kaum eine derartige Aktion beschlossen worden wäre“. An diesem Abend kam es kurz nach 22.00 Uhr zu Auschreitungen gegen die noch in Miehlen wohnhaften jüdischen Bürger. Entgegen sonstigen Gepflogenheiten wurde in dieser Nacht die Straßenbeleuchtung kurz nach 22.00 Uhr ausgeschaltet. Gleich danach konnte man Schreie und lautes Gepolter auf den Straßen vernehmen. „Es kam zu Gewalttätigkeiten insbesondere gegenüber den jüdischen Wohnungen, die teilweise durch eine fanatische aufgehetzte und planmäßig geführte Menge zerstört wurden“. Lärmende Männer und herumstehende Dorfbewohner umrahmten die Aktion. Vor den Häusern der Juden lagen überall zertrümmerte Möbel, zersplittertes Glas von eingeworfenen Fensterscheiben und diverse Haushalts- bzw. Geschäftsgegenstände. Bei Jakob Strauß konnte noch rechtzeitig ein vorsätzlich gelegter Hausbrand gelöscht werden. Vor der Doppelhaushälfte von Berle Strauß standen mehrere Personen und sahen zu. Bei Sally Strauß und Hermann Strauß spielte sich das gleiche ab. Auch hier wurden einzelne Möbelstücke auf die Straße geworfen. Im Kaufhaus Friedberg wurden die Lagerbestände des Geschäftes sowie auch persönliches Eigentum der Familie zu einem großen Teil zerstört bzw. geplündert. Eine damalige Zeugin berichtete: „mehrere Personen sah ich im Kaufhaus von Friedberg dauernd mit Taschenlampen umhergehen. Sie wafen Gegenstände aus dem Fenster, die von außenstehenden Frauen fortgetragen wurden. Die Personen waren bis morgens um 3.30 Uhr im Hause“.

Nicht nur jüdische Wohnungen, auch der jüdische Friedhof am Ehrlichsberg wurde geschändet. Die Synagoge fiel der Zerstörungswut ebenfalls zum Opfer. Fensterscheiben wurden eingeworfen, Türen eingeschlagen. Die Inneneinrichtung sowie Kultgegenstände wurden demoliert bzw. geplündert. Und indem man die Wasserleitung überlaufen ließ, setzten Nationalsozialisten und ihre Anhänger die Synagoge unter Wasser.

Mit Gewalttätigkeiten gegenüber den jüdischen Mitbürgern hielten sich die Nationalsozialisten und ihre Mitläufer ebenfalls nicht zurück. Berle Strauß stülpte man den Nachttopf über und stieß ihn somit mehrmals gegen einen Schrank. Hermann Strauß soll von einem Beteiligten am Kragen gepackt, in das Gesäß getreten und die Treppe hinuntergeworfen worden sein. Überall konnten Schreie aus den „Judenhäusern“ in Miehlen vernommen werden.

Hilfe konnten die drangsalierten Juden nicht erwarten. Die Miehlener Bevölkerung, wenn sie nicht als Zuschauer auf der Straße standen oder sich am Besitz der Juden bereicherten, blieben in ihren Häusern und wollten von der ganzen Angelegenheit nichts wissen. Einige von ihnen reagierten mit Abscheu, wagten es aber nicht, sich dem organisierten Terror entgegenzustellen. Selbst der damalige Gendameriebeamte schritt gegen die Ausschreitungen nicht ein. Er, der sich in dieser Nacht im Nassauer Hof in Miehlen aufhielt, hörte die Schläge und das Rumoren. Nachdem er dem Wirt nach draußen folgen wollte, riet dieser ihm, er solle drinnen bleiben. So rechtfertigte sich der Beamte in der späteren Hauptverhandlung im Mai 1950. Er will von den ganzen Vorgängen keine Ahnung gehabt haben. Nach einem Anruf bei seiner Ehefrau am gleichen Abend, soll sie ihm mitgeteilt haben, daß Staatsbeamte bei Ausschreitungen gegen Juden sich jeder Amtshandlung zu enthalten hätten. So lieh sich der Gendarmeriebeamte einen Regenmantel vom Wirt des Nassauer Hofs, zog diesen über seine Uniform und ging unerkannt zu seiner Wohnung nach Kestert.

Wie es in Miehlen nach der „Pogromnacht“ aussah, schildert eindrucksvoll ein Zeitzeuge in der Marienfelser Chronik: „Wie an jedem Tag waren wir auch an diesem Morgen zu dritt oder zu viert mit unseren Fahrrädern unterwegs zur Landwirtschaftsschule in Nastätten. In Miehlen angekommen sahen wir dann ab dem Frisörgeschäft Blies das schreckliche Ausmaß der Zerstörungen. Zunächst waren am Geschäft und Wohnhaus Friedberg die Fensterscheiben eingeschlagen, die Straße lag voller Scherben und Einrichtungssachen. Wir mußten unsere Fahrräder auf die Schulter nehmen und durch Miehlen tragen. So wie hier bei Friedberg sah es überall aus, wo Juden wohnten. Nach einer bangen Frage unsererseits wurde uns erklärt: Hejt Noacht honns die Jurre mohl krejt“.

Nach der „Pogromnacht“ wurden die Miehlener Juden mit Lastwagen nach Frankfurt a.M. gebracht. Dort beerdigte man am 30. November 1938 Berle Strauß, am 6. Dezember 1938 Hermann Strauß und am 27. Dezember 1938 Jakob Strauß. Die Ehefrau des Jakob Strauß, Träutchen wurde deportiert und verstarb am 27. August 1943 im Ghetto Theresienstadt. Sally Strauß und seine Ehefrau Irma kamen ins Ghetto Minsk und gelten als verschollen. Ihre beiden Kinder konnten noch rechtzeitig auswandern. Alfred und Hildegard Friedberg konnten ebenfalls noch emigrieren, Alfred ging nach New York (USA) und Hildegard nach Palästina.

In den jüdischen Gedenkbüchern sind noch weitere ehemals jüdische Miehlener Mitbürger zu finden. Erna Settchen Grünewald wurde für tot erklärt. Bertha Hermann gilt als verschollen im Ghetto Theresienstadt, Inge Strauß verschollen im Ghetto Minsk, Siegfried Hermann verstarb im Konzentrationslager Auschwitz, Bernhard Friedberg kam am 1. November 1944 im Ghetto Lodz ums Leben, Settchen Gamiel geb. Friedberg verstarb am 23. September 1942 im Ghetto Theresienstadt und Familie Goldschmidt gilt als verschollen im Ghetto Minsk.

In der Nachbargemeinde Nastätten ging es nicht weniger „sanft“ zu, hier fanden gleich zwei „Pogromnächte“ statt, am 10. und am 16. November 1938. Die Nationalsozialisten und ihre Anhänger „gingen mit deutscher Gründlichkeit und Brutalität vor, wie dies nur in wenigen Orten des rheinischen und nassauischen Landes der Fall war“. Eine Feststellung der 3. Strafkammer des Landgerichts Koblenz nach ihren Beweisaufnahmen vom 19. bis 30. April 1949. Bereits in den Nachmittagsstunden wurden Posten vor und hinter den Häusern der jüdischen Mitbürger aufgestellt, damit keiner von ihnen fliehen konnte. Beim Ausbruch der Dämmerung konnte man in Nastätten vermummte Gestalten die Fensterscheiben der jüdischen Wohnungen zertrümmern sehen. Dann drangen die aufgestellten „Rollkommandos“ in die Wohnung der Betroffenen, zerrten sie zum Teil unter schweren Mißhandlungen auf die Straße und schleppten sie zur Synagoge. Den 82jährigen jüdischen Lehrer Gustav Mannheimer stießen die Nationalsozialisten die Treppe hinunter, so daß er mit dem Kopf auf die Steinstufen des Hauseingangs aufschlug. Man ließ ihn mit der blutenden Wunde am Hinterkopf liegen. Ein halbes Jahr später, am 14. März 1939 verstarb er in Nastätten. Einige der jüdischen Frauen wurden von den Nationalsozialisten mit Fußtritten mißhandelt, andere an den Haaren zum Sammelort gezerrt. Mit Gewalttätigkeiten wurde nicht gespart. So mußten jüdische Mitbürger die auf der Straße herumliegenden Glas- und Porzellansplitter mit bloßen Händen auflesen und forttragen. Dieser befohlenen Gewaltaktion standen die Juden recht- und schutzlos gegenüber. Um Mitternacht hatten die Nationalsozialisten und ihre Anhänger alle Juden aus Nastätten und Umgebung in der Synagoge zusammengetrieben. Von außen konnte die Bevölkerung das laute Weinen und Schreien vernehmen.

Mancher Bürger blieb vor Angst zu Hause. Doch ein großer Teil der Bevölkerung verfolgte das Geschehen mit Neugier und Teilnahmslosigkeit, andere wiederum unterstützten die Aktion durch anfeuernde und zustimmende Zurufe. Nicht nur die Bevölkerung Nastättens war auf den Beinen, hinzu gestellten sich noch Arbeiter aus den benachbarten Dörfern durch das Schichtende der Nastätter Seidenfabrik Kampf & Spindler.

Am nächsten Tag wurden die Juden über Frankfurt a.M. in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert.

In der Nastätter „Pogromnacht“ zerstörte man die Inneneinrichtung der Synagoge gänzlich und montierte den auf dem Giebel angebrachten goldenen Davidstern ab. Die Synagoge wurde verkauft und 1939 abgelegt, der Platz wurde eingeebnet. Eine um das Grundstück führende Bruchsteinmauer erhielt im Volksmund den Namen „Klagemauer“.

Die zweite Ausschreitung gegen jüdische Bürger folgte sechs Tage später, am 16. November 1938. Nathan Nathan, seine Frau Emile und Tochter Irma verh. Stein, konnten vor den ersten Ausschreitungen von einem Nastätter Ehepaar rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Den Helfern wurde nach Bekanntwerden ihrer Tat die Autohändlerkonzession entzogen, der Ehemann aus der Partei ausgeschlossen.

Die Familie Nathan kehrte am 16. November 1938 von Frankfurt a.M. nach Nastätten zurück. Schon bei Nathans Ankunft mit dem Bahnomnibus kam es zu einem unerfreulichen Zwischenfall; dieser endete damit, daß halbwüchsige Jugendliche ihn auf seinem Heimweg begleiteten und ihm vermutlich durch einen Steinwurf eine blutende Wunde am Hinterkopf beibrachten. Aufgrund dieses Vorfalls verbreitete sich in Windeseile die Nachricht von der Rückkehr der Nathans. Für die Nastätter SA-Leitung bot das Veranlassung genug, noch am gleichen Abend eigenmächtig gegen ihn und seine Familie vorzugehen. Es wurden Posten vor dem Haus aufgestellt, damit diesmal niemand entfliehen konnte. Das getarnte „Rollkommando“ schlich sich von hinten heran und trieb den alten Nathan hinaus auf den Hof, wo man ihn mit Schlägen wiederholt derart mißhandelte, daß er nach vergeblichen Fluchtversuchen schließlich blutend und zeitweise bewußtlos lieben blieb. Unterdessen mißhandelte ein anderer Teil der „Horde“ die beiden Frauen im Innern des Hauses. Von draußen konnten deutlich ihre Hilferufe und das Rumoren im Hause wahrgenommen werden. Doch niemand wagte, gegen diesen Terror einzuschreiten, zumal die Nastätter SA noch aus der Kampfzeit her als besonders schlagkräftig und roh bekannt war. Das Bett der jungen Frau Stein soll von oben bis unten mit Blut beschmutzt gewesen sein. Nach ihren Andeutungen gegenüber Zeugen ist es ihr gegenüber „offensichtlich zu wüsten sexuellen Ausschreitungen unter einer fortdauernden geradezu als sadistisch zu bezeichnenden Mißhandlung gekommen sein“. Erst zur späten Nachtstunde konnten die beiden Frauen den Mißhandlungen entfliehen. Sie fanden Unterschlupf in einem Bahnwärterhaus bei Holzhausen a.d.H., von „wo sie mit völlig zerrissenen Kleidern und deutlichen Mißhandlungsspuren nach Frankfurt a.M. flüchteten“. Der alte Nathan konnte ihnen später folgen.

Von der Angst vor weiteren Repressalien flüchteten viele Nastätter Juden in die Großstadt Frankfurt a.M. Leider blieb ihnen dort die Deportation in die Konzentrationslager im Osten nicht erspart. Die Witwe Klare Leopold hatte noch Glück und konnte im September 1938 nach New York (USA) emigrieren.

Am 15. Januar 1941 meldete der damals kommissarische Bürgermeister dem Landrat in St. Goarshausen: „Nastätten ist judenfrei“.

In den jüdischen Gedenkbüchern findet man sie wieder: Otto Benedick verschollen in Polen, Feist Goldschmidt am 27. September 1942 und Sara Goldschmidt am 15. Dezember 1942, Amilie Gruenewald am 3. Oktober 1942 und Hermann Gruenewald am 4. Februar 1943 im Ghetto Theresienstadt verstorben. Nathan Heymann am 7. April 1943 und Johannette Heymann am 3. Juli 1944 in Theresienstadt verstorben. Nathan Nathan ließ am 6. Mai 1942 im Ghetto Lodz sein Leben. Rosalie Scheye ist als verschollen gemeldet, Ernst Scheye kam am 30. März 1942 im Konzentrationslager Dachau ums Leben. Max Stein mußte am 30. Juli 1942 im Ghetto Lodz sein Leben lassen und seine Ehefrau Irma Stein geb. Nathan gilt dort als verschollen. Karl Stern gilt als verschollen im Konzentrationslager Auschwitz. Bei vielen weiteren ehemals jüdischen Mitbürger Nastättens steht ein dickes Fragezeichen nach der Frage über ihren Verbleib.

In den späteren Hauptverhandlungen wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit hatte die 3. Strafkammer des Landgerichts Koblenz am 30. April 1949 bezüglich der „Pogromnächte“ in Nastätten drei Angeklagte freigesprochen und die übrigen 18 Angeklagten verurteilt. Die Palette der Verurteilungen beginnt mit einer Gefängnisstrafe von vier Monaten und endet mit einer Zuchthausstrafe von vier Jahren. Auffallend in diesem Prozeß war der Gedächtnisschwund und die scheinbaren Absprachen unter den Angeklagten. Für Miehlen dagegen sprach das Schwurgericht Koblenz am 20. Mai 1950 acht Angeklagte mangels Beweises frei, bei fünf erging Freispruch und nur ein Angeklagter erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr.

Nach 1945

Trotz aller Schicksalsschläge besuchten ehemalige jüdische Mitbürger in den 50er Jahren ihre Heimatorte auf. Teilweise kamen sie in regelmäßigen Abständen auf Besuch.

Im Oktober 1995 fand nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder eine Beisetzung auf dem Nastätter Judenfriedhof statt. May Barker geb. Oppenheimer, Tochter des Moritz Oppenheimer, wünschte sich die Heimat ihrer Vorfahren als letzte Ruhestätte. Die feierliche Beisetzung fand im kleinem Kreise statt.

Trotz der Annäherung findet man in keiner der Gemeinden, Miehlen und Nastätten, einen einzigen jüdischen Bürger oder Bürgerin.

Quellen:

1) Gemeindearchiv Miehlen

2) Mit Zeitzeugen in Nastätten und Miehlen geführte Interviews

3) Nastätten. Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Stadt Nastätten 1993.

4) Landeshauptarchiv Koblenz Best. 584,1 Nr. 1305

5) Die Lageberichte der Gestapo über die Provinz Hessen-Nassau. Hrsg. T. Klein